Rede zum 20. Juli 2023

Herr Oberst! Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Frau Bürgermeisterin! Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Herr Militärpfarrer! Kameradinnen und Kameraden der Bundeswehr! Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die sie hier an der Henning-von-Tresckow-Stele zusammengekommen sind, um der tapferen Männer und Frauen des Widerstands gegen das nationalsozialistische Gewalt- und Terrorregime zu gedenken, 79 Jahre nach den Geschehnissen des 20. Juli 1944! Über die vergangenen Jahrzehnte durfte ich bereits einige Male Gedenkworte an Orten nationalsozialistischer Verbrechen sprechen, an Denkmalen in Buchenwald und an Gräbern ermordeter Juden in den Wäldern Lettlands. Ich konnte viele Orte des Schreckens besuchen, Ausschwitz-Birkenau und die Wannseevilla in Berlin ebenso wie Orte des Gedenkens, des Erinnerns und des Forschens wie Jad Vashem und auch die Wolfsschanze bei Rastenburg selbst, Zentrum von Gewaltbefehlen wie Brennpunkt des Attentats gegen den Tyrannen. Vieles ist an Dokumenten und Zeugnissen bis dato zusammengetragen, analysiert und interpretiert worden, manches habe ich gelesen und gehört. Dabei habe ich festgestellt, dass neben der schieren Monstrosität dessen, was im Namen Deutschlands eigenen Menschen und dann vor allem auch anderen Völkern und Nationen, ja, anderen Menschen angetan wurde, was unter dem Begriff der Shoa des jüdischen Volkes ein bleibender, schändlicher und beschämender Teil unserer Geschichte wurde und bleibt, es die einzelnen Schicksale sind, die berühren und das so schwer Vorstellbare näherbringen, durch Briefe, Tagebücher, Stolpersteine, Augenzeugenberichte und Filmdokumente. Geradezu eingebrannt hat sich mir die Aufnahmesequenz aus dem Volksgerichtshof, in welchem der von Haft und Misshandlung gezeichnete Ulrich Graf Schwerin von Schwanenfeld seine Widerstandsmotivation mit dem Satz „Ich dachte an die vielen Morde im In- und Ausland“ gerade noch aussprechen kann, bevor er von Freisler als „schäbiger Lump“ niedergebrüllt wird. Der unwahrscheinliche Mut und die klare Konsequenz des später in Plötzensee Hingerichteten stehen im diametralen Gegensatz zur kaum auszuhaltenden Perfidie und Menschenverachtung des Präsidenten des Volksgerichtshofs. Solche Einzelgeschehnisse machen dem, der sich darauf einlässt, deutlich, worum es in letzter Ausprägung im Widerstand ging: und die höchsten menschlichen Werte des Lebens und der Freiheit und allen ihren Menschenrechtsableitungen, und wogegen es ging: gegen Staatsterror, gegen Rassenhass und gegen Vernichtung im Angriffskrieg. Diese Haltung kann nichts anderes sein als vorbildlich und ehrsam, damals wie heute.

Henning von Tresckow – Sohn unserer Stadt

Das Gedenken zum 20. Juli in Magdeburg wird stets verbunden sein mit dem Namen und dem entschlossenen persönlichen Wirken des Generalsmajors Henning von Tresckow, der am 10. Januar 1901 in unserer Stadt geboren wurde. Hier steht die Stele seinen glasklaren Worten vor und nach dem Attentat, die sein Vermächtnis für uns darstellen und welche wir immer einmal wieder lesen und verinnerlichen sollen, gerade wenn wir Verantwortung tragen, eine Verantwortung, die, wir dürfen dankbar sein, noch nicht auf eine Probe gestellt wurde wie vor achtzig Jahren. Es ist gerade heute, im 21. Jahrhundert, unabdingbar, dass wir diesem Vermächtnis gerecht werden in und mit unserm Gemeinwesen, und ebenso gerecht bleiben! Als Henning von Tresckow sein Ziel klar wurde, hat er so umfassend wie nur wenige aus dem Verschwörungskreis des 20. Juli nach Gleichgesinnten gesucht, Austausch geplant, Zirkel zusammengebracht, wir würden sagen: vernetzt, und schließlich Verwirklichung angestrebt, dieses alles bei laufendem Kriegsgeschehen an der östlichen Front, das ihn auch als General natürlich mental ebenso forderte. Wenn wir nach seiner Motivation zum Widerstandshandeln fragen, so kommen wir aus seinen schriftlichen Zeugnissen wie das den Berichten seiner Familie und Freunden, nach meiner Überzeugung um zwei Punkte in keinem Fall herum: eine tiefe Verinnerlichung der zeitlos gültigen soldatischen Tugenden wie Tapferkeit, Ritterlichkeit, Anstand und Treue, um nur einige zu nennen, und um eine feste Verankerung im christlichen Glauben. Diese Kategorien prägten ihn bis ins Mark. Sie sind selbstredend nicht die einzigen Grundlagen, einem dem Rad eines Gewaltregimes in die Speichen zu fallen zu wollen und es auch zu tun, um ein Bild Dietrich Bonhoeffers bereits von 1933 aufzugreifen. Widerstand geschah auch aus liberalen, sozialistischen und auch kommunistischen Grundeinstellungen heraus. Wer indes von Tresckow verstehen will, muss sich damit auseinandersetzen, wer darüber hinaus von Tresckow auch heute zum Vorbild nehmen will, muss sich fragen, was diese Motivationen für unsere heutige, moderne und säkulare Gesellschaft bedeuten. Wie kann das, was von Tresckow daraus zog, heute sinnstiftend und tragend vermittelt werden? Das ist eine Bildungsaufgabe, gewiss, aber für uns alle, so meine, ebenso ich eine Haltungsaufgabe. Weder soldatischen Tugend noch christlicher Glauben sollten im demokratischen Rechtsstaat fremd oder ungewöhnlich sein.

Meine Damen und Herren! Die Rezeption des Widerstandes, der im 20. Juli seine deutliche Sichtbarkeit gewann, war in Deutschland immer mit hochakademischen wie populärwissenschaftlichen Diskussionen verbunden. Waren die ersten Jahre der jungen Bundesrepublik die Fragen des Eidbruchs von zentraler Relevanz, rieb man später häufig an der nationalkonservativen Herkunft vieler der Protagonisten, danach wiederum kam und kommt die Betrachtung möglicher eigener Verstrickungen in NS-Verbrechen in den Blick, um heute neu die Relevanz der Motivationen für das tatsächliche Handeln zu hinterfragen. Ohne in einer Gedenkansprache auch nur im Ansatz diese bis dato nicht abgeschlossene Diskussion zumeist universitär-historischen Analyse zu führen zu wollen, erscheinen mir zu alledem wiederum zwei Aspekte wichtig.

Die innere Zerrissenheit der Frauen und Männer des 20. Juli

Einerseits waren sich die, die den Widerstand leisteten, selbst in weitem Umfang dieser menschlichen Problematiken, ja seelischen Abgründe, bewusst, und sie haben damit und dann auch mit sich gerungen. Da war von Tresckow keine Ausnahme. Bedenken wir immer, dass es sich um Widerstand im diktatorischen System handelte. Das zerrt gewaltig an dem, was als gut und richtig und hehr erkannt wurde. Diese innere Zerrissenheit wird sehr deutlich, wenn Dietrich Bonhoeffer 1942 u.a. an Hans von Dohnanyi und Hans Oster schriebt: „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unendliche Konflikte mürbe und vielleicht zynisch geworden -sind wir noch brauchbar?“ Wir dürfen in der Rückschau des heutigen Gedenkens dankbar sein, dass diese Männer und Frauen, denen es oft übermenschlich schwer gemacht wurde, im besten Sinne des Wortes brauchbar waren, brauchbar geblieben sind. Stauffenberg, Beck, Von Tresckow und viele andere haben es gewagt. Sie haben bereit, dafür den höchsten Preis zu zahlen, und sie haben es getan. Der zweite Aspekt ist dieser: bei aller Universalität von Menschenrechten durch die Geschichte hindurch ist es kaum zu vertreten, alle modernen Maßstäbe unser geschützten und bei allen heutigen Angriffen doch stabilen Demokratie von nunmehr auch schon über siebzig bzw. über dreißig Jahren auf die Zeit einer Gewaltdiktatur im Krieg zu übertragen, in der sich, auch im Widerstand, eben Menschen bewegten. Der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, formulierte es in einer Rede 2019 so: „Es erscheint mir besser, selbst für die Demokratie einzutreten, als Menschen, die unter anderen politischen Bedingungen aufgewachsen sind, vorzuhalten, sie hätten die Demokratie nicht so gut verstanden, wie wir heutigen uns das selbst attestieren.“ Persönlich füge ich hinzu: wenn man von Tresckow liest und das, was beispielsweise sein enger Weggefährte und späterer Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlabrendorff aus der Erinnerung aufgeschrieben hat, wird man gerade sehr viel persönliches wie politisches Herzblut für ein anderes, besseres, freiheitliches Deutschland finden.

Meine Damen und Herren! Im Osten unseres Europas tobt, während wir hier versammelt sind, wieder ein Angriffskrieg. Können wir hier aus den Erkenntnissen des 20. Juli hierfür etwas verinnerlichen, auch wenn es sich selbstredend verbietet, die heutigen Diktaturen der Welt auf die Ebene der nationalsozialistischen Vernichtungsherrschaft zu stellen? Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, hat es in ihrer Gedenkrede in Plötzensee vor genau einem Jahr zum 20. Juli mit Blick auf die Ukraine und Belarus glasklar in drei Lektionen uns Deutschen in aller Deutlichkeit mitgegeben: Diktaturen gedeihen, wenn Demokratien nicht wachsam sind. Diktatoren lassen sich nicht beschwichtigen oder umerziehen. Wahre Veränderungen sind das Produkt von Millionen kleiner Handlungen, die Mut erfordern.“ Dem ist nichts hinzufügen, außer der Hoffnung, dass wir solches für unser Handeln stets beherzigen!

Und heute? Was bleibt?

Und Hennig von Tresckow? Kann er auch für die Zukunft, auch für die jungen Menschen, die diese Demokratie in Deutschland und Sachsen-Anhalt einmal weiterführen sollen, etwas mitgeben? Nun, es ist eine Rede überliefert, die Henning von Tresckow selbst unmittelbar an zwei Jugendliche richtete, an seine beiden Söhne Mark und Rüdiger bei ihrer Konfirmation im Frühjahr 1943 in der Potsdamer Garnisonkirche. Er spricht dabei von Preußentum als einer hohen Idee, eine heutzutage uns oft fremdgewordene Anschauung nach dem Ende des preußischen Staates 1945. Selbst bin ich kein Preuße, und doch lag für mich in diesen Worten an die beiden Jungen immer mehr als ein Lob auf ein verklärtes, früheres Preußen. Von Tresckow war ganz und gar nicht naiv, als er festhielt: „Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen Stolz auf das Eigene und Verständnis für andere. Ohne diese Verbindung läuft es Gefahr, zu seelenlosem Kommiss und engherziger Rechthaberei herabzusinken. Nur in dieser Synthese liegt die deutsche und europäische Aufgabe des Preußentums.“ Das sprach von Tresckow, während er mitten im Krieg längst den Tyrannenmord plante und umzusetzen versuchte. Seine Idee von Preußen geht weit über engeres, lokales Preußen hinaus. Bei diesem Verständnis können wir, so denke ich, zu Recht annehmen, dass zumindest er, nicht trotz seines Herkommens Verschwörer wurde, wie manche andere, sondern unmittelbar wegen seines Herkommens und seines Glaubens, die ihn klar prägten. Auch wenn wir heute wohl manches anders formulieren würden: Bindung und Freiheit, Stolz auf das Eigene und Verständnis für andere, keinen Kommiss und keine Rechthaberei., in Deutschland und Europa, das sind Gedanken, die auch für junge Menschen – und für uns hier ebenso – gegenwarts- und zukunftstauglich sind und gelten können für eine offene, inklusive, freiheitliche, soziale, rechtsstaatliche, aber auch nach innen und außen wehrhafte Demokratie.

Meine Damen und Herren, Henning von Tresckow und die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 sind gute und tragfähige Vorbilder an Mut, Einsatz- und Opferbereitschaft auch für unser demokratisches und soziales Gemeinwesen. Ihre Entscheidung zum Widerstand gereicht ihm und ihnen bis heute uneingeschränkt zur Ehre. Sie haben sich bleibend verdient gemacht um unser deutsches Vaterland.

Vielen Dank.